10. Sehnsucht nach Frieden
"Schalom" ist das alttestamentliche Wort für Frieden. Dieser Begriff umfasst viel mehr als die ausgehandelte politische Sicherheit, die man heute weithin als Frieden bezeichnet. "Schalom" ist der Ausdruck für ein umfassendes, den ganzen Menschen in all seinen Beziehungen umgreifendes Heilsein und Wohlergehen.
Bilder zum Frieden gibt es viele: die weiße Taube, ein Garten im Sommer, eine verschneite Straße. Menschen im Gespräch, ein lesendes Kind. Bilder, in denen oft ein Anteil Idyll und Weltabgewandtheit steckt, nostalgische Sentimentalität sogar. Als wäre der Frieden mitten im Leben dann doch nicht zu Hause.Und vielleicht ist er noch nicht einmal ganz von dieser Welt.
Der Prophet Jesaja malte sich den Frieden in einem künftigen Paradies aus: Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinander liegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.
Auch das ist ein sehnsuchtsvolles Friedensbild. Eines allerdings, dass die Überwindung der Gewalt in eine übernatürliche Wirklichkeit verlegt, in der alles anders ist als in unserer: Die Raubtiere dürften keine Raubtiere mehr sein, damit ihre Beutetiere keine Beutetiere mehr sein müssten.
Und der Mensch, von dem diese surreale Vision des „Tierfriedens“, wie die Kunstgeschichte das Bildmotiv nennt, ja auch erzählen soll? Ist er ohne Zähmung nicht auch ein Wesen, das davon lebt, andere niederzuhalten, auszubeuten oder sogar zu töten?
Für Kant ist Frieden kein natürlicher Zustand zwischen Menschen, er muss deshalb gestiftet und abgesichert werden. In seiner Schrift: „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ ist er sich mit Thomas Hobbes darin einig, dass der „Naturzustand“ des Menschen einer der gegenseitigen Feindseligkeit ist. Frieden müsse also eigens „gestiftet“ werden. Und daran ist laut Kant die natürliche „Zwietracht“ unter den Menschen, ja sogar der Krieg wesentlich beteiligt. Denn gerade durch den Krieg „nötige“ die Natur den Menschen … „in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten“.
Ein Volk, das sich selbst „nach Gleichheitsgesetzen“ regiert, demokratisch also, wie man heute sagen würde, nennt Kant „königlich“. In einem solchen Volk wären die Konflikte nicht ausgeräumt, im Gegenteil: Frieden bedeutet, mit Konflikten nach Rechtsgrundsätzen umzugehen, die für alle gelten.
Neben Teilhabe, Gerechtigkeit und Recht ist Sicherheit eine weitere wichtige Zutat im Begriff des Friedens. Diese beiden für unser politisches, aber auch individuelles Selbstverständnis so wichtigen Werte Freiheit und Frieden gehören einfach zusammen.
Aber wie gehören sie zusammen? Um das zu erklären, greift der Philosoph Christoph Quarch auf ein antikes Konzept zurück: das der Harmonie. Zu verstehen nicht als großer Gleichklang, sondern als spannungsvolles Miteinander:
Wir können dabei – eine Metapher, die naheliegt, weil der Begriff der „Harmonie“ ja auch ursprünglich aus der Welt der Musik kommt – an einen Chor oder ein Orchester denken, und in der Tat, auch die Griechen haben diese Metapher gerne bemüht, vor allen Dingen Platon. Dann wäre eben eine Polis wie ein Chor, in dem sehr, sehr unterschiedliche Stimmen irgendwie doch ihr eigenes in diesen Chor einbringen können, aber doch so, dass aus der Vielfalt eine Ganzheit wird und auch die einzelnen Individuen sich in diesem Zustand entfalten und zeigen können.
Frieden als eine Aufgabe, als etwas Bewegliches, nie ganz Vollendetes: Damit ist auch ein Gegenbild zur Assoziation von Ruhe und Ordnung entworfen, die häufig mit Friedensvorstellungen einhergeht. In einem individuellen ebenso wie im gesellschaftlichen oder politischen Sinne.
Und deswegen ist Frieden auch nichts, was einfach nur durch einen Vertrag hergestellt werden kann. Er ist schwer zu fassen, der Frieden. Ist stets gefährdet und wird nie erreicht.
Er bleibt eine unerfüllte Sehnsucht.
Der Text wurde stark komprimiert diesem Podcast entnommen:
Musik: Die Improvisation No.15 von Francis Poulenc FP 176 („Hommage à Edith Piaf") wurde mir von einer lieben Chorfreundin empfohlen - danke dafür!
Als Bonustrack gibt es heute noch Mélancholie FP 105 von Poulenc dazu.

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