15. Das ewig Strebende
„Die Musik muss immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus.“ Gustav Mahler
Die Sehnsucht ist ein glühendes und ziehendes Gefühl. Die Sehnsucht ist ein Spannungszustand.
Unsere abendländische Musik kann im Wesentlichen ebenfalls als Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung gelesen werden. HARMONIE UND DISSONANZ - es werden gewisse Akkorde als auflösungsbedürftige Dissonanzen, andere als in sich ruhende Konsonanzen empfunden. Eine Abweichung vom tonalen Zentrum verursacht einen Spannungsaufbau, eine Rückkehr eine Entspannung.
In allen diatonischen Tonsystemen gibt es diese Spannungstöne, die Hörerwartungen provozieren. Der wichtigste Spannungston ist der Leitton, der einen Halbtonschritt unterhalb Grundtons liegt und auf diesen hinzielt.
Wie kann denn Musik aber Emotionen ausdrücken? Eine einfache Frage – so scheint es. Doch was so einfach scheint, ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen für Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die sich seit Jahrzehnten vergeblich um eine Antwort auf diese Frage bemühen.
Die Strebetendenz-Theorie des Musiktheoretikers Bernd Willimek formuliert eine erste Begründung für die emotionale Wirkung musikalischer Harmonien. Sie postuliert, dass das emotionale Erleben von Musik auf Identifikationsprozessen des Musikhörers mit Willensinhalten basiert, die in der Musik encodiert sind.
Die Strebetendenz-Theorie bestreitet, dass Musik überhaupt Emotionen vermitteln kann, sondern nennt es Willensinhalte, mit denen sich der Musikhörer identifiziert, und nur durch diesen Vorgang der Identifikation erscheinen diese Willensinhalte dann emotional gefärbt. Diese Willensvorgänge in der Musik haben etwas mit dem zu tun, was frühere Musiktheoretiker mit Vorhalt, Leitton und Strebetendenz bezeichnet hatten. Doch erst, wenn man diese Erscheinungen gedanklich ins Gegenteil umkehrt, offenbaren sie den Willensinhalt, mit dem sich der Musikhörer identifiziert: Nicht etwa der Ton strebt zur Veränderung, sondern der Hörer identifiziert sich mit dem Willen, dass der Ton unverändert bleibt. Durch Anwendung dieses Prinzips lassen sich die Emotionen erklären, die die Musik im Hörer schließlich auslöst.
So drückt etwa ein Mollakkord keine Trauer aus, sondern bei einem Mollakkord identifiziert man sich mit einem Willen, dessen Inhalt etwa mit „ich will nicht mehr …“ umschrieben werden kann. Wenn man einen Mollakkord auf dem Klavier zunächst ganz leise wiederholt und dann langsam immer lauter wird, empfindet man den Klang zuerst als traurig und dann mit dem Lauterwerden als wütend. Man beurteilt die Klänge genau so, wie man urteilen würde, wenn ein Mensch die Worte „ich will nicht mehr…“ zunächst leise flüstert und dann laut herausschreien würde. Der Umweg über Willensprozesse wird dabei gar nicht bewusst. Bei einem Durakkord hingegen identifiziert man sich in der Regel mit einem Willen, dessen Inhalt etwa mit „ja, ich will…“ umschrieben werden kann. (Stangl, 2023).
Quelle: Stangl, W.Strebetendenz-Theorie. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/11203/strebetendenz-theorie.
Hier kann man weiterlesen über die Strebetendenz-Theorie:
Sehr spannungsgeladen ist die Musik im „Psalmus Hungaricus“ von Zoltán Kodály. Dieses Chorwerk vertont Teile des 55. Psalms. Musikalisch gesehen ist sie durch die ungarische Volksmusik beeinflusst, die Kodaly gemeinsam mit seinem Landsmann Béla Bartók gründlich studiert hat. Zu hören ist hier der lyrische mittlere Abschnitt mit einem Tenor-Solo. Wir sangen dieses Stück im November unter der Leitung unseres Chefdirigenten, Adam Fischer - übrigens exakt 100 Jahre nach der Uraufführung in Budapest.

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