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2. Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid, seine Naht ist lang wie die Ewigkeit.

Sybille

Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid,

Seine Naht ist lang wie die Ewigkeit.

Streicht die Sehnsucht um das Haus,

Trocknen die plaudernden Brunnen aus;

Die Tage kommen wie Tiere daher,

Du rufst ihre Namen, sie atmen nur schwer;

Du suchst dich im Spiegel, der Spiegel ist leer,

Hörst nur der Sehnsucht Schritt,

Du selbst bist nicht mehr.

Max Dauthendey (1867-1918)

Das Wort Sehnsucht klingt für mich dunkel und samtig mit dem gedehnten ersten Vokal, dem zweifachen stimmhaften S und dem dunklen U.


Wir haben es hier mit einem Germanismus zu tun, d.h. es wird in anderen Sprachen gleichlautend verwendet bzw. es gibt keine analoge Übersetzung, die den gleichen emotionalen Gehalt hat.

Das lateinische desiderium - bietet als Übersetzung: Verlangen - Bedürfnis - Wunsch an, aber das sind ja eigentlich ganz unterschiedliche Ausprägungen.

Die Sprachforscherin Dr. Christine Möhre vom Institut für deutsche Sprache unterscheidet diese so:

„Ich habe auch für diese bedeutungsähnlichen Wörter geschaut, mit welchen anderen Partnerwörtern sie vorkommen. Dabei habe ich festgestellt, dass im Zusammenhang mit dem Wort "Sehnsucht" Adjektive auftauchen wie "unerfüllt", "unerfüllbar", "unstillbar", "romantisch", "tief" und "ewig".

Bei Verlangen dagegen ergibt die Suche Begriffe wie "sexuell", "unwiderstehlich", "brennend", "zwanghaft". Bei "Begehren" sieht es ähnlich aus, da haben wir es mit "sexuell", "erotisch", "weiblich", "männlich" "körperlich" zu tun.

Bei den Begriffen "Begehren" und "Verlangen" steht also eher das Thema Lust im Vordergrund, ebenso Körperlichkeit und Sexualität. Bei Verlangen kommen auch noch Konsumgüter, Alkohol, Nikotin, Zigaretten ins Spiel.

Beim "Wunsch" haben meine Untersuchungen gezeigt, dass es hier vor allen Dingen um die Auseinandersetzung zwischen Wunsch und Wirklichkeit geht. Und wir haben hier beispielsweise auch mit Verben zu tun – etwa mit "einen Wunsch erfüllen oder äußern", "einem Wunsch nachkommen". Bei den Adjektiven spielen "ausdrücklich", "persönlich", "groß" eine Rolle, die zwar eine Nähe zur Sehnsucht aufweisen, aber eben doch eher Wunsch und Wirklichkeit thematisieren.

Auf diese Weise können wir die Begriffe doch recht gut voneinander angrenzen, auch wenn sie in einem Synonymwörterbuch unkommentiert als bedeutungsähnlich nebeneinander stehen.“


Hier kann man das gesamte Interview mit der Sprachforscherin nachlesen:


Die heutige Musik:

Alexander Scriabin, Prelude Nr. 11 H-Dur aus 24 Preludes op. 11 mit dem russischen Pianisten Evgeny Zarafiants.


Dies ist ein früher Scriabin, der sich noch sehr stark an Chopin anlehnt. Später wird es deutlich chromatischer, zuletzt wird seine Kompositionstechnik als Vorform der Zwölftontechnik beschrieben. Scriabin war übrigens ein Kommilitone von Rachmaninow am Moskauer Konservatorium.




 
 
 

2 commenti


Ospite
02 dic 2023

Mit Vergnügen lese ich diese sprachlichen Ausführungen - danke für dieses besondere Schmankerl neben der Musik!

Es scheint eine Sprache zu geben, in der es doch auch ein Wort für die Sehnsucht gibt: auf Rumänisch heißt sie "dor". Interessant, wenn eine französische Autorin dann von Unübersetzbarkeit spricht und die deutsche Übersetzerin dieses französischen Textes sich mühsam um die eigentlich ganz einfache Lösung herumschmuggeln muss ... Nachzulesen bei Lola Lafon, "Quand tu écouteras cette chanson", oder nächstes Jahr auf Deutsch ;)

Viele Grüße, Elsbeth

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Sybille
03 dic 2023
Risposta a

Ah, sehr gespannt auf das Buch!! LG nach LUX!

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