21. Frage
Einst wird die Weltposaune dröhnen,
Und mächtig aus des Engels Mund,
Ein lauter Donner wird es tönen:
"Du Erde, öffne deinen Schlund!"
Sie schüttelt träumend ihre Glieder,
Und alle Gräber tun sich auf
Und geben ihre Toten wieder,
Die kommen staunend Hauf zu Hauf.
Dann, wenn, den großen Spruch zu sprechen,
Der Ew'ge sich vom Stuhl erhebt,
Und stockend alle Herzen brechen,
Und Todesangst die Welt durchbebt.
Und laut erkracht des Himmels Krone –
Denn ringsum Schweigen fürchterlich –
Dann will ich steh'n vor seinem Throne
Und fragen: "Warum schufst du mich?"
Friedrich Theodor Vischer (1807-1887)

Staunend und ein bisschen spöttisch, fast wie eine Theateraufführung, wird hier das Letzte Gericht beschrieben. Und das lyrische Ich nimmt sich vor, selbstbewusst dem Schöpfer gegenüber zu treten und die Frage zu stellen: Warum schufst du mich?
Rusalka, die Wassernixe aus Dvoraks berühmtester Oper, sehnt sich nach Liebe und betet den Mond an, ihr eine menschliche (fühlende) Seele zu geben. Die folgende Analyse ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie mit musikalischen Mitteln der Inhalt eines Stückes umgesetzt wird.
"Das als Mondarie bekannteste Stück der Oper ist in Wirklichkeit ein Lied, dessen zwei Strophen jeweils aus einem sanften, sehnsuchtsvollen A-Teil und einem expressiven B-Teil mit Appellcharakter und Oktavsprung am Anfang bestehen. Die weiche Tonart Ges-dur, der federnde 3/8-Takt, das Tempo larghetto, die Begleitung der sordinierten Geigen [mit Dämpfer] in Terzen und im piano schaffen eine zarte, intime Atmosphäre, in der sich der nächtliche Herzenswunsch Rusalkas artikulieren kann. Gemäß der Volksliedanlage sind die Strophen in Viertakteinheiten angelegt. Im A-Teil der ersten Strophe ist aber nur die erste Einheit tatsächlich viertaktig gesungen, bei den anderen Einheiten endet der Gesang nach drei Takten, der vierte ist instrumental und wiederholt meist das Schlussmotiv des Gesangs, wodurch sich auf eine feine, raffinierte Weise die Sehnsucht Rusalkas nach einer menschlichen Seele ausdrückt. Die zweite Strophe ist in beiden Teilen leicht variiert, um noch mehr Intensität zu erzeugen. Am Ende jeder Strophe erscheint das harte, über fünf Takte klingende, Symmetrie und Zartheit des Vorherigen zerstörende Zaubermotiv als Zäsur und unheilvolle Vorausdeutung. Die 13-taktige (!) Coda (vorausdeutendes Unglück!) steigert Rusalkas wahnhafte Vorstellung und den Appell an den Mond durch eine kurzatmigere Zweitaktigkeit und vor allem im Orchester durch den steten Wechsel ihres Leitmotivs mit dem Zaubermotiv, bis sich dieses am Schluss ganz durchsetzt und zur Herbeirufung der Hexe überleitet, die nach Bedenken und Bedingungen schließlich die Verwandlung vornimmt."
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