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Musikalische Heimat

Sybille

Aktualisiert: 30. Nov. 2022



Dieser Blog und die dazugehörige Playlist bei Spotify entstanden im November 2020 während des zweiten Corona-Lockdowns. Nachdem ich die ersten zwei Adventskalender von 2018 und 2019 exklusiv für meine Mutter gestaltet hatte, habe ich in 2020 zwei liebe Freundinnen mit dazu eingeladen. Wo es passt, sind einige Kommentare aus diesem exklusiven Kreis angefügt.


"Wir wollen ja gute Stimmung haben, also geht es um Vertrautes und Liebgewonnenes, um die grundlegenden musikalischen Prägungen, die uns unser Leben lang begleiten. Oder um ein hohes Wort zu bemühen: Es geht um musikalische Heimat. Und zwar komme ich darauf durch ein sehr einschneidendes Erlebnis, das ich einmal hatte: Ich hörte eine bestimmte Musik seit langer Zeit einmal wieder und hatte ein so starkes Gefühl von „Diese Musik ist meine Heimat" dass es mich wirklich tief berührt hat. Ich verrate jetzt nicht, welches Stück es war, das ist auch nicht als Rätselfrage gemeint, sondern als Impuls. Also: Wenn du an deine Musikalische Heimat denkst, welche Musik kommt dir als erste in den Sinn?"

Kommentare:

H: Welche Musik fällt mir spontan ein? Ich habe das schon einmal erzählt, wie ich durch eine verschenkte Abokarte meines Englischlehrers in der Hamburger Musikhalle als 15 Jährige mit Mozart in Berührung kam. Die „abgenudelte" g-Moll-Sinfonie und die Jupitersinfonie - für mich damals ein umwerfendes Erlebnis, das mich bis ins Mark erschütterte.

Na, und dann natürlich weihnachtliche Posaunenklänge, die eben doch sehr tief gehen.

Im Laufe des Lebens kommen ja immer unvergessliche musikalische Momente hinzu, aber Heimat beginnt ja eben mit Kindheit und Jugend.


C: Musik, die mich immer wieder tief berührt ist zum Beispiel das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow.


A: An meinen musikalischen Wurzeln habe ich heute... sehr gegraben - Aber ich könnte nicht explizit sagen, dieses oder jenes habe mich geprägt. Trotz allem hatte ich Erinnerungen an die Schulzeit, den Schulchor, die Klavierstunden, die verschiedenen Lehrer ...Ganz schön, dank deiner Anregung !

Beethoven: Klavierkonzert Nr. 5 op. 73

Ja, mein erwähntes Erlebnis hatte ich beim Adagio des 5. Klavierkonzerts von Beethoven. Es hat mich wirklich wie eine Erkenntnis getroffen: In dieser Musik bin ich zuhause, sie ist meine Heimat. Im Nachhinein habe ich das so gedeutet: Die Klassik (als musikalische Epoche) bildet den Gravitationspunkt meiner musikalischen Sozialisation und von ihr geht alles aus. Es ist die Harmonik, die Themenbearbeitung, es ist sicher das Instrument und natürlich sind mit diesem Konzert auch biografische Erinnerungen verbunden. Im Netz habe ich eine sehr schöne und passende Beschreibung gefunden:

„Tritt das Orchester im ersten Satz von Beethovens 5. Klavierkonzert in einem martialischen Gegenpart gegenüber dem Solisten auf, so wird es im Adagio un poco moto zum freundlichen Begleiter. Ganz so, als wäre der napoleonische Kanonendonner um Wien, der Beethoven umgab, als er 1809 sein Konzert schrieb, verflogen. Schwebend leicht gleiten die Töne des Klaviers über dem Klangteppich des Orchesters dahin. Eine einzige große Idylle tut sich auf. Der langsame Satz, sagt der englische Pianist Paul Lewis, sei von seinem meditativen Charakter her zwar keine Ausnahme in Beethovens Musik. Aber er sei doch ein außergewöhnliche empfindsamer Part im 5. Klavierkonzert. Und er verbinde klug die Ecksätze, indem er die Gedanken des Finales vorwegnehme: "Einer von Beethovens Überraschungs-Tricks ist es, sich auf nur eine Note zu konzentrieren. Der langsame 2. Satz endet in B-Dur auf dem H, das einen Halbton nach unten auf B rutscht. Das kann alles Mögliche bedeuten. Zuerst wissen wir nicht, wohin das harmonisch führt. Doch dann erklärt er es und gibt einen Vorgeschmack auf ein Thema des letzten Satzes – aber im Pianissimo. Auf einmal explodiert es. Der letzte Satz wird schon angekündigt - in Es-Dur und von Ferne - bis es auf einmal Peng macht und los geht´s. Darin besteht die Überraschung und genauso muss man es spielen: als etwas Unerwartetes. Auch wenn jeder das Stück kennt und genau das im Endeffekt erwartet." Das Finale des 5. Klavierkonzertes von Beethoven greift nicht mehr die martialische Seite des ersten Satzes auf. Es hat, ähnlich wie die Schlusssätze der anderen Klavierkonzerte, tänzerischen Charakter. Die große Spannung, so Pianist Paul Lewis, die dem Anfang des Konzerts innewohnte, hat sich gelöst. "Ich frage mich, ob dies nicht ausdrücken soll, dass etwas durchlebt wurde – dass man über etwas hinausgewachsen ist. Dieser letzte Satz handelt nicht von irgendeiner Sorge über Krieg oder so etwas. Er ist leichter, er tanzt, er atmet und beansprucht Raum. Man fühlt sich, als hätte man etwas überwunden – als hätte man ein Problem bewältigt." (Paul Lewis)

Wir können das ja als Versprechen nehmen. Etwas überwinden, ein Problem bewältigen, na wenn wir das je gebrauchen konnten, dann jetzt!

Zu dieser Aufnahme: Es gibt natürlich unendlich viele Aufnahmen von diesem Konzert. Ich habe mir einige angehört, gefallen hat mir u.a. Glenn Gould, der sich in einem Interview darüber geäußert haben soll, auf welch „bescheidenem musikalischen Material das Konzert doch beruhe“. Je nun,

„Glenn Gould liebte Komponistenbashing". Vor allem, wenn die Lordsiegelbewahrer es lasen, Feuer unter deren Hintern, daran hatte er eine diebische Freude. Zu schade, dass die Komponisten nicht einfach so komponiert haben, wie Gould es wollte. Sein Hauptopfer war ja Mozart. Er hat dies mit grauenhaften Interpretationen untermauert. Beethoven-Intpretationen gab es viele von ihm, dem bashing zum Trotz. Das fünfte mindestens zwei Mal. Einmal auf der CD, einmal als Fernsehaufzeichnung, wo er angeblich sehr kurzfristig einsprang. Die Fernsehaufzeichnung zeigt ihn als fast konventionellen Pianisten. Für Gould ja eigentlich eine Höchststrafe.“

Ich habe mich aber letztlich für eine Aufnahme mit Zimerman und Bernstein entschieden, erstens aus meiner alten Liebe zu Bernstein, den ich einen solchen Jahrhundertmenschen finde, dass ich es gar nicht sagen kann, und

„…. was Zimmerman pianistisch und Bernstein orchestral hier abliefern ist so begeisterungswürdig, dass man es nicht in Worte fassen kann: Das ist Beethoven in seiner Dramatik mit Gefühl voll ausgespielt - fabelhaftes Orchester unter Lenny, nichts für Langeweiler; ja, das fetzt!“
„Maurizio Pollini + Berliner Philharmoniker (2003), Dir. Wolfgang Sawallisch: schööön. da hätte ich am liebsten die ganze Zeit mitgesungen. Sehr festlich, passend zum Feiertag (3.10.) aufs Programm gesetzt.“

Alle hier aufgeführten Zitate aus dem von mir sehr geliebten Capriccio-Kulturforum, in dem überaus kenntnisreiche Menschen sich tiefgehend über Musik unterhalten, Aufnahmen benennen, sich auch mal fetzen, ist eine riesige Fundgrube, aus der ich mich auch im weiteren Verlauf bedienen werde.


Kommentare:

H: Nur ganz schnell die Reaktion: Du wirst es mir nicht glauben, aber genau das habe ich erwartet. Ich denke, dass Du Dich an die Klavierkonzerte im Wohnzimmer zu Hause erinnern wirst.


C: Das 5. Klavierkonzert von Beethoven ist das erste klassische Werk, das mir aus meiner Schulzeit in bester Erinnerung geblieben ist. Es wurde im Musikunterricht besprochen und hat mir so gut gefallen, dass ich mir meine erste LP von meinem Taschengeld geleistet habe. Ich glaube, dieses Werk „innen und außen“ auswendig zu kennen, so häufig wurde diese LP damals aufgelegt.

Wie schön, dass wir beide wieder einmal einen ähnlichen Musikgeschmack haben...


H: An sich dachte ich, dass Mahler Dein Favorit ist, hatte aber tatsächlich zunächst auf No 5 getippt.Das Adagio ist schon wunderbar. Ich muss an die cavatina von Beethoven denken, die doch mit der Voyager ins All geschickt wurde. Von ihr hat doch Brahms gesagt, sie sei das Maximum, was Musik noch aussagen könnte.Ich weiß nicht, ob dieser Satz ihr nicht ebenbürtig wäre.

Geh aus mein Herz

Mozart: Sinfonien Nr. 40 g-moll KV 550 und Nr. 41 C-Dur KV 551

George Gershwin

Peter Tschaikowski

Franz Schubert

Richard Strauss

Felix und Fanny Mendelssohn

Dimitri Schostakowitsch

Edvard Grieg

Französische Chansons

Benjamin Britten: Young Person's Guide to the Orchestra

Modest Mussorgski: Bilder einer Ausstellung

Sergej Prokofiew: Peter und der Wolf

 

Wenn ich so zurück denke, bin ich voller Dankbarkeit für meine Musiklehrerin Frau Witte an der Liebfrauenschule, die ein wirkliches stabiles Fundament der musikalischen Bildung gelegt hat, eine Art Kanon an musikalischer Literatur vermittelte, mit uns die Schöpfung im Schulchor gesungen usw. usw. Ich müsste mal meine ehemaligen Mitschüler fragen, welche Erinnerungen sie an den Musikunterricht haben - ich habe nur die besten!!!


Ich denke eher mit etwas Schaudern an meine Klavierlehrerin in Oldenburg, Frau S., die sehr streng war und einen furchtbar bitteren Zug um den Mund hatte. Aber wir hatten neben dem Klavierspiel auch Unterricht in Harmonielehre, das war sehr lehrreich. So habe ich früh verstanden, dass Musik viel mit Struktur zu tun hat, dass man sie analysieren kann und der musikalische Genuss dadurch stark steigt. Weniger Erinnerungen habe ich an meinen ersten Klavierlehrer, Professor Erich Böhlke, ehemaliger GMD in Oldenburg, der wie mein Großvater mütterlicherseits aus Stettin stammte und auch das gleiche Lehrerseminar wie mein Großvater besuchte (beide sind dann aber keine Lehrer geworden). Prof. Böhlke sprach immer gerne von "seinem Freund Richard Strauss". Spannend, er hatte bei Humperdinck, Busoni, Schönberg und Toscanini studiert - wusste ich alles noch nicht, habe ich gerade beim Googlen rausgefunden


Ganz zum Abschluss für diese Playlist kommen die zwei persönlichsten Erinnerungen: Zwei Lieder, die mich in meine ganz frühe Kindheit zurück führen.

Meine Großmutter mütterlicherseits war eine überaus resolute Frau - eine frühe „Frauenrechtlerin“ könnte man sagen, vielseitig interessiert, immer mit ihrer (wie sie selbst fand) zu geringen Bildung hadernd, war an Geschichte und Zeitgeschehen ebenso interessiert wie an Mode oder Literatur. Musik gehörte jedoch nicht zu ihren Interessengebieten. Sie sagte mir bei meinen Besuchen in Hamburg (ich war eigentlich in allen Schulferien bei ihr) lieber Gedichte auf. Natürlich aus dem Gedächtnis. Prinz Eugen der edle Ritter, der Ring des Polykrates, solche Sachen. Oder sie sang, zu ihrem eigenen Amüsement, Moritaten: Bolle reiste einst zu Pfingsten oder aber Sabinchen war ein Frauenzimmer. Wenn ich an einzelne Textstellen denke, kann ich ihre Stimme noch hören.

Und ich höre meine Mutter dieses niederdeutsche Volkslied singen - Dat du min Leevsten büst - mit einer ganz zart gezupften Begleitung auf der Gitarre, die in meinem ersten Kinderzimmer hing. Schöne Erinnerungen.

(Beweisfoto: Im Hintergrund ist die Gitarre zu erkennen)



Hier kommt noch einmal der Link zur Playlist bei Spotify, einfach anklicken:




 
 
 

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